Societaetstheater Dresden, Regie: Amina Gusner, Rolle: Mary - Photo Credits : STEFAN BÖHLIG
Furiose Ode an die Lufthoheit im Glas
„Eines langen Tages Reise in die Nacht“: Amina Gusner serviert prickelnde Drogen-Elegie im Societaetstheater
VON ANDREAS HERRMANN
Eine Familie zusammen auf dem Sommerlandsitz, vermutlich ein altes, verfallenes Schloss inmitten Englands. Vater James Tyrone, der
sonst sein Leben als Schauspieler stets auf Tournee verbringt, gilt als Geizhals und kauft dennoch, bei den Abenden im Club, mal schnell
die eine oder andere Schrottimmobilie, während zu Hause an Strom und Arztkosten gespart wird.
Frau Mary, die in 36 Ehejahren nicht nur zwei Söhne gebar, sondern auch eine Tochter verlor, ist des Lebens, vor allem der einsamen
Abende in zweitklassigen Hotels überdrüssig und sehnt sich nach einem echten Zuhause mit Ganzjahrespersonal – und wird
morphiumsüchtig, weshalb alle darauf achten, dass sie möglichst nicht ins Gästezimmer oder zur Apotheke zwecks nächster Nadel gerät.
Die Söhne treten in des Vaters Fußstapfen, wobei Edmund eher spielt, Jamie besser schreibt – und alle viel vertragen, aber sich gern
jeden Lapsus vorhalten, obwohl sich alle doch irgendwie aus tieferem Grunde lieben. Sie sind sich im Prinzip einig: Der Vater ist schuld,
aber die bürgerliche Familienbande schweißt halt hier, so vor knapp sieben Dekaden, noch so weit zusammen, dass eigene Wege als
Lösung keinen Ausweg bieten. Hier kommt nun neu Jamies Schwindsucht hinzu, an der sein Opa mütterlicherseits einst jämmerlich
krepierte.
Erschütterung oder Erlösung als die
Morphiummutter (Wiebke Frost) im alten
Brautkleid auftaucht? – Szene mit Tim
Mackenbrock, Anne Munka, Daniel Langbein,
und Tom Mikulla, v.l. Foto: Stephan Böhling
Eugene O‘Neills posthume und wohl latent autobiografische Ode an die Problemmilderung mittels Medizin aller, vor allem schottischer oder
irischer Art, führt in die Parallelwelt höherer Wahrnehmung bei niedrigeren Hemmschwellenwerten. Und das wird von Amina Gusner und
ihrem Quartett im Societaetstheater beeindruckend umgesetzt: Allen voran Wiebke Frost als Mary, die von der Wiener Burg bis zum
Berliner DT und von Tabori über Zadek bis Peymann alle(s) kennt und hier edel und galant den Verfall ganz stark symbolisiert, immer in der
Balance eines garantiert tödlichen Seiltanzes, ohne je die Würde zu verlieren. Tom Mikulla, seit „Sprechende Männer“ (2013) hier
Stammgast, gibt einen beeindruckenden Vater, der stets zwischen männlicher Stärke und väterlicher Milde zu Tim Mackenbrock als Jamie und Daniel Langbein als Eddy schwankt, wobei
Harmonie und Promille als Verhältnis korrelieren.
Aminas Schwester Inken Gusner dreht als Ausstatterin die Szene, indem sie den Saal zur Bühne erhebt, während dort das Publikum sitzt. Das bereitet anfangs akustische Probleme, wird
aber rasch durch das tänzelnde bis körperliche Spiel bis an den Rand von Bühne und Variabilität wettgemacht und erweist sich immer mehr als Geniestreich, bei der die mit weißen Decken
abgedeckten Möbel den staubigen Charme edler Vergangenheit suggerieren.
Klar geistert das Werk in der kaputten Erlebnisfamilienwelt von Schauspiel- oder Schreibgünstlingen und spekuliert zuerst auf diese als Zielgruppe. Da aber in der modernen Gesellschaft
jeder seinen Senf geschützt texten und seine Haltung tanzen darf, ist diese doch recht umfassend. Auch dagegen hilft dieser zeitlos-akute Abend als Läuterung: Klar würde man sich nach
der Schlusspointe gern heimlich hinten an die Hausbar pirschen (wenn die lustigen, aber fairen Haustechniker nicht vor üblem Tee in allen Whiskeyflaschen warnten) – natürlich nur (wie alle
stets zuvor) für den einen finalen Absacker.
Aber wie das Quintett – inklusive Musikerin Anne Munka, die hinten als Haushälterin den Soundtrack zaubert – die Spannung mählich steigert und hält und selbst aussetzend per Stuhl am
Saalrand stets in Fassung wie Rolle bleiben, das verwundert und begeistert zunehmend. Nach 111-minütiger Reise endet die Nacht endlich – in verdient-euphorischem Premierenapplaus –
nur um den nächsten Morgen dem Murmeltier zu überlassen... Damit serviert die anno 1965 in Moskau geborene Regisseurin bereits den vierten Soci-Spielzeitauftakt in Folge. Nachdem sie
vor drei Jahren Sibylle Bergs „Und jetzt: die Welt!“ anbot und vor zwei Jahren ihrem eigenen Werk namens „Scheitern, aber richtig!“ vollends gerecht wurde, setzte sie im vergangenen Jahr
mittels Max Frischs „Biografie. Ein Spiel“ in Dresden bislang unerreichte Maßstäbe in Sachen klassisches deutsches Kammerspiel mit hoher geistiger Wendigkeit.
Nun reüssiert sie mit Eugene O‘Neills pulitzerpreiswürdigem Werk, welches 1941 geschrieben, aber erst drei Jahre nach seinem Tod 1956 uraufgeführt wurde, denn ihr gelingt mit dieser
Nachtreise des Nobelpreisträgers nicht nur, ein anderes, leider ebenso seltenes Genre in die pseudomodern-verschnarchte Landeshauptstadt zu tragen, sondern eine prickelnde Drogen-
Elegie, die nicht nur von allen Akteuren wirklich anstandslos gut getragen wird, sondern auch gut als Sucht-, Paar- oder Familientherapie taugt. Freunde barscher britischer Naturen sowie
anderweitige Bedürftige sollten sich (zum Beispiel mittels anonymen Gutscheins für penetrante Antialkoholiker) beeilen: Das Stück läuft nach der Premiere inklusive heute noch genau 13
Mal und dominiert (je donners- bis samstags) quasi en suite den Soci-Septemberspielplan.